Grußwort zur Eröffnung des Bach-Marathons

Liebe Bach-Familie,

auch ich wollte heute hier stehen, um Familienmitglieder aus aller Welt – darunter fast 50 Bach-Chöre von allen Erdteilen – zu einem ganz besonderen Bachfest in Leipzig zu begrüßen. Aber wir alle hatten einen Gast nicht auf der Rechnung: dieses miese kleine Virus, das nun alle Bänke in Bachs Kirchen buchstäblich besetzt und so vielen Gästen und Künstlern den Weg nach Leipzig versperrt. Das schmerzt uns alle!

 

ABER: Wir Bach-Freunde spüren auch: Die Wirkung seiner Musik ist stärker als die Pandemie. Und deshalb bin ich unendlich glücklich, dass wir eine Möglichkeit gefunden haben, uns trotz abgesagtem Bachfest zumindest virtuell zusammenzufinden. Bei der Johannes-Passion am Karfreitag hier in der Thomaskirche haben wir es bereits geschafft, und genau da wollen wir nun weitermachen: mit einem viertägigen Bach-Marathon an diesem und dem kommenden Wochenende. Über 1.500 Minuten Bach »zur Recreation des Gemüths«. Ja, die Erholung des Gemüts, diese Wirkung bescheinigte Bach selbst der Musik. Und er hatte so Recht: Wir alle wissen, Bachs eigene Musik begeistert uns nicht nur. Sie hat auch die wundersame Wirkung, Menschen zu trösten, unsere Seelen zu erfrischen, uns zu entspannen und neue Kraft zu verleihen. Diesen Trost, diese »Recreation des Gemüths«, haben wir alle in der Krise nötig.

 

Aber ganz besonders nötig haben ihn unsere Künstler. Denn viele Musiker, die ihr Leben Bach widmen, sind Freischaffende. Seit das Virus überall auf der Welt das öffentliche Leben lähmt, tausende Konzerte abgesagt werden mussten, haben die Künstler fast keine Auftrittsmöglichkeiten mehr. Und deshalb bin ich sehr glücklich, dass gerade sie es sind, die unseren Bach-Marathon gestalten werden: 160 Freischaffende, die meisten aus Leipzig, haben uns innerhalb weniger Tage zugesagt und wunderbar vielseitige Programme erarbeitet, die sie nun in Thomas- und Nikolaikirche – selbstverständlich unter Wahrung der Mindestabstände – präsentieren, jedoch dabei im Live-Stream alle Grenzen dieser Welt überwinden werden. Herrlich! Ihnen allen gilt dafür mein ganz herzlicher Dank. Und ebenso danke ich von Herzen all den Sponsoren und Förderern, die uns ermöglicht haben, dass dieser Marathon den Künstlern nicht nur Manna, also das berühmte Himmelsbrot, sondern auch ein wenig täglich Brot beschert.

 

Es ist ein wunderbares Symbol, dass die dafür nötigen Mittel teilweise von Bach-Freunden aus aller Welt kommen, die dafür bei der Aufführung der Johannes-Passion am Karfreitag gespendet haben. Und es ist ebenfalls ein großartiges Zeichen, dass mit der Sparkasse Leipzig und der Leipziger Gruppe sozusagen unsere örtlichen Grundversorger für Strom, Wärme, Wasser und den schnöden Mammon mit ihrer großzügigen Unterstützung uns allen diesen Marathon ermöglichen und so die gesamte Musikstadt Leipzig – trotz abgesagtem Bachfest – zum Klingen bringen. So geht verlässliche Partnerschaft, ja so geht sächsisch. Und deshalb auch ein ganz herzliches Dankeschön an unseren Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und die sächsische Staatskanzlei für die ganz kurzfristige Förderung durch die So-geht-Sächsisch-Initiative.

 

Und zuletzt gebührt ein ganz großes Dankeschön meinem Team am Bach-Archiv, das einerseits noch immer die Absage des Bachfestes verdauen muss, andererseits bei der sehr kurzfristigen Organisation dieses Marathons wirklich einen Marathon hingelegt hat – und nun eine »Recreation des Gemüths« ziemlich gut gebrauchen kann.

 

Noch einmal: Ihnen allen kann ich gar nicht genug danken. Und deshalb passt das Stück, mit dem Thomaskantor Gotthold Schwarz mit dem Sächsischen Barockorchester und Mitgliedern des Thomanerchors nun unseren Marathon eröffnen wird, auf ganz besondere Weise. Die Kantate Bachwerkeverzeichnis 29 – wir haben gerade ihre atemberaubende Einleitung gehört – komponierte Bach einst, im Jahr 1731 für den Gottesdienst nach der Wahl des neuen Leipziger Stadtrates. Sie beginnt mit einem Chorsatz auf die Worte »Wir danken Dir, Gott, wir danken Dir!« Er wird vielen von Ihnen bekannt vorkommen, allerdings mit einem anderen Text. 15 Jahre später verwendete Bach die Musik erneut, und zwar als Schlusssatz für seine h-Moll-Messe. Aus »Wir danken dir, Gott, wir danken Dir« wurde so das »Dona nobis pacem«, also Bachs eindringliche Bitte an Gott um Frieden.

 

Der Satz wurde, wie die gesamte h-Moll-Messe, ein Werk für die Ewigkeit – eine Komposition, die längst alle geografischen und kulturellen Grenzen überwunden hat und in normalen Zeiten die am häufigsten aufgeführte Komposition Bachs ist. Nicht zuletzt deshalb gehen ›normale Bachfeste‹ immer mit der h-Moll-Messe zu Ende. Und ja, deshalb muss auch unser Bach-Marathon am kommenden Sonntag in der Nikolaikirche mit der h-Moll-Messe zu Ende gehen. Sie muss Corona-bedingt in einer kammermusikalischen Fassung erklingen, vielleicht in der kleinsten Aufführung, die es je gab. Aber Sie alle, liebe Bachianer, sind eingeladen – wo auch immer Sie sind – mitzusingen und mitzuspielen. Es wird unsere gemeinsame h-Moll-Messe werden; eine die (wie schon die Johannes-Passion am Karfreitag) um den Erdball gehen wird und so wunderbar das Motto verkörpert, unter dem das diesjährige Bachfest stehen sollte: BACH – We are FAMILY! Viele der zum Bachfest eingeladenen Chöre – von Neuseeland bis Paraguay, von Japan bis Kanada – haben mir versprochen, mitzusingen. Und viele von Ihnen haben uns außerdem rührende musikalische Grüße übersandt, die wir ebenfalls im Bach-Marathon ausstrahlen werden. Ja, BACH – We are FAMILY, das ist nicht mehr allein das Motto eines verschobenen Bachfestes, sondern mir scheint, es ist inzwischen eine Bewegung geworden: ein besonderer Spirit, der uns alle – da bin ich mir ganz sicher – über die kommenden zwei Jahre tragen wird.

 

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen wirkungsvollen Bach-Marathon »zur Recreation des Gemüths«. Zugleich hoffe ich, dass wir uns alle im Bachfest 2022 hier in Leipzig wiedersehen werden – oder schon im Bachfest 2021, das passenderweise unter dem Motto »Erlösung« stehen wird. Bleiben Sie gesund und behütet: BACH – We are FAMILY!

 

 

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