Der Festival-Jahrgang 2024: CHORal Total

Gespräch mit dem Intendanten Prof. Dr. Michael Maul

Was charakterisiert den diesjährigen Festival-Jahrgang?
Zunächst einmal, dass hier ein lang geplantes Vorhaben endlich Realität wird. Denn tatsächlich ist das Herzstück des Bachfestes 2024 das am längsten vorbereitete Projekt in unserer nunmehr 25-jährigen Geschichte: Schon 2020 sollten unter dem Motto »BACH – We are FAMILY!« Bach-Chöre aus aller Welt den gesamten »Choralkantaten-Jahrgang« aufführen, also jene 66 Kantaten, die der Thomaskantor Bach weitgehend in seiner zweiten Leipziger Kantaten-Saison, ab Juni 1724, zu Papier brachte. Die Pandemie machte unsere Planungen vorerst zunichte. Doch nun soll alles nachgeholt werden – wieder mit Bach-Chören aus aller Herren Länder. Und was mich besonders freut: Nun zum eigentlich viel besser passenden Termin, genau 300 Jahre nach der Uraufführung des Zyklus, und natürlich – wie immer in Leipzig – an den originalen Spielstätten Bachs.

 

Deshalb das Motto »CHORal Total«?
Ja und nein. Es stimmt: Die 16 Konzerte des Choralkantaten-Zyklus bilden sozusagen das Rückgrat des Festival-Jahrganges – und ich bin gespannt, wieviele Besucherinnen und Besucher das Angebot wahrnehmen werden, das stark rabattierte Ticket für die gesamte Reihe zu erwerben. Aber das Choral-Jubiläum ist sogar ein doppeltes. Viele der Kirchenlieder, die Bach innerhalb des Jahrgangs in raffinierte Choralkantaten verwandelte, werden 2024 ein halbes Jahrtausend alt. 1524 veröffentliche Martin Luther in Wittenberg das erste evangelische Gesangbuch und legte damit den Grundstein für die große Tradition protestantischer Choräle. Sie dienen seither nicht nur als stimmungsvolle Bereicherung eines jeden Gottesdienstes, sondern inzwischen seit Generationen den Komponisten als Projektionsflächen für allerlei musikalische Experimente. Deshalb widmen sich viele weitere Konzerte und Vorträge diesem Phänomen aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. Die Choräle, aber auch das Medium Chor – wir haben um die 30 Bach-Chöre von fast allen Kontinenten zu Gast – sind der rote Faden im Bachfest 2024. Kurz: CHORal Total!

 

Apropos Jubiläen: Bachs erste Leipziger Passionsmusik, die Johannes-Passion, wird 2024 auch 300 Jahre alt. Wie gehen Sie damit um?
Wir rollen ihr sozusagen den roten Teppich aus, denn wir zeigen ihre Vielseitigkeit und Zeitlosigkeit gleich in drei Formaten. Einmal ganz historisierend: Mit dem Thomanerchor in einer Besetzungsstärke wie zu Bachs Zeiten, musiziert an der großen Bach-Orgel in der Thomaskirche. Sodann in einer szenischen Darbietung in der Peterskirche, präsentiert vom Bonner Ensemble Vox Bona, das uns schon 2019 mit seiner Interpretation der Matthäus-Passion überwältigte. Und dann wollen wir mit der Johannes-Passion am Tag der Bachfest-Eröffnung noch in einer Open-Air-Aufführung auf der BachStage buchstäblich alle Grenzen überwinden: »Johannes-Passion barrierefrei«, musiziert und zugleich gebärdet vom Ensemble Sing&Sign, mit hoffentlich tausenden Mitsängerinnen und Mitsängern bei den Chorälen im Publikum vor Ort und im Livestream in aller Welt.

 

Und jenseits der Bach-Choräle?
... gibt es auch Vielfältiges und durchaus Überraschendes zu entdecken! Äußerst gespannt bin ich auf »J. S. Bach – Die Apokalypse«: eine außergewöhnliche Produktion der Nederlandse Bachvereniging, die auf der Basis von Chören und Arien Bachs und mit einer gehörigen Portion Kreativität sicherlich den Beweis liefern wird, dass der Thomaskantor auch einen grandiosen Opernkomponisten abgegeben hätte. Daniel Johannsen wird in seiner ›Engführung‹ aus Arien Bachs und Schuberts Winterreise zeigen, dass der ›Kantaten-König‹ Bach es aber auch vermag, hervorragend mit dem ›Lieder-König‹ zu ›kooperieren‹. Philippe Herreweghes h-Moll-Messe und die Matthäus-Passion unter Václav Luks werden gewiss Sternstunden. Erhellend wird aber sicherlich auch das zweiteilige Dialogkonzert von John Eliot Gardiner und seinem Monteverdi Choir mit der wunderbaren Geigerin Isabelle Faust. Sie werden in der Nikolaikirche im Wechsel Motetten Bachs und Sonaten und Partiten für Violine solo musizieren – letztere vorgetragen auf der »Dornröschen«-Stradivari, die Faust, wie zu Bachs Zeiten, mit Darmsaiten bespannt.

 

Also trotz CHORal Total auch Instrumentales?

Aber ja, und nicht zu knapp. Speziell für Freunde der Achttausender der Violinliteratur bietet unser Bachfest die Möglichkeit, einen weiteren – indirekten – Dialog zu belauschen. Denn auch der großartige griechische Geiger Leonidas Kavakos wird sich in zwei Nachtkonzerten den Sonaten und Partiten widmen, seinerseits vorgetragen auf modernen Saiten und auf einem nicht minder bedeutsamen Instrument: der »Willemotte«-Stradivari, einer formvollendeten Violine, die der König aller Geigenbauer noch mit 90 Jahren in Cremona schuf.
Überhaupt spielt in diesem Bachfest die Violinliteratur eine ganz besondere Rolle: Chouchane Siranossian, Artist in Residence, die ich für ihr glühendes, unglaublich packendes Spiel verehre, musiziert Werke von Bachs Vorbildern, außerdem in unseren Late-Night-Lounges in den Komponistenhäusern gleich drei Versionen der legendären Chaconne. Im Eröffnungskonzert schlägt sie die Brücke zum Thema Choral: mit dem Violinkonzert von Alban Berg. Und dann ist da noch Hélène Schmitt, die sich in drei Konzerten mit Bibers rätselhaften »Rosenkranz-Sonaten« auseinandersetzt. Wenn Sie so wollen, wird in diesem Bachfest der Himmel voller Geigen hängen! Und voller Tasteninstrumente – wie die vielen Recitals und Konzerte, etwa vom diesjährigen Preisträger der Bach-Medaille Andreas Staier, von Kit Armstrong, Christine Schornsheim, Alexander Paley, Kristian Bezuidenhout und und und ... zeigen werden.

 

Wie steht es denn um die Education- und kostenfreien Formate?
Sie machen, wie immer, mehr als ein Drittel aller 160 Veranstaltungen aus. Natürlich gibt es wieder die Reihe der Vorträge unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die Werkeinführungen, beide deutsch/englisch. Zusätzlich haben wir nun – auf vielfachen Wunsch – eine Gesprächsreihe, in der die Künstlerinnen und Künstler selbst zu Wort kommen. Wir laden wieder herzlich zu den Ausstellungen in unser Bach-Museum und in die Leipziger Komponistenhäuser und ebenfalls zu Orgel- und Konzertfahrten in andere Bach-Stätten Mitteldeutschlands. Die BachStage auf dem Marktplatz bietet an den ersten drei Tagen ein buntes Bach-Crossover-Programm, der Hauptbahnhof und die Reihe »bach für uns« ein attraktives Familienprogramm. Kurzum: Auch dank der vielen treuen Bachfest-Partner und -Förderer präsentiert sich die Musikstadt Leipzig in ihrer ganzen Breite!

 

Und worauf freuen Sie sich am meisten?
Vielleicht wird uns im Bachfest 2024 etwas auf ganz besondere Weise gelingen, wofür das Festival ohnehin schon steht: die besondere Stimmung, die sich durch eine große Nähe zwischen Akteuren und Publikum einstellt. Da sind zum einen die vielen Bach-Chöre, die es kaum erwarten können, dass es endlich losgeht. Außerdem bieten wir in diesem Jahr auch wieder jedem sangesfreudigen Laien an, im Festival-Chor unter Ton Koopman zu singen; im Choralkantaten-Zyklus werden wir alle gemeinsam in die Schlusschoräle einstimmen. Überhaupt wird es besonders viele Formate geben, in denen die Grenzen zwischen passiven Zuhörerinnen und Zuhörern und aktiven Musikerinnen und Musikern verschwimmen werden.
Ich bin jedenfalls voller Vorfreude und lade von Herzen jede und jeden nach Leipzig ein, die sich Johann Sebastian Bach verbunden fühlen, sich begeistern lassen möchten – oder sich danach sehnen, ihre Begeisterung mit Gleichgesinnten aus aller Welt zu teilen.
Herzlich willkommen bei CHORal Total!

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