Passionsoratorium

Drei Fragen an Alexander Grychtolik

Sie haben sich in der Vergangenheit in ganz besonderer Weise auf die Rekonstruktion verschollener Bach-Werke konzentriert, etwa die Köthener Trauermusik oder manch weltliche Kantate. Woher kommt dieses Interesse?

Nehmen wir einmal die Sieben Weltwunder, von denen nur noch die Cheops-Pyramide in Ägypten erhalten ist: Seit Jahrhunderten sind die Menschen von diesen antiken Wunderbauten fasziniert und immer wieder inspiriert, sich ein Bild von ihnen zu machen. Dank intensiver Forschung hat man mittlerweile eine recht gute Vorstellung, wie einige von ihnen ausgesehen haben. Nun ist es sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass Bachs Musik eine Art »Achtes Weltwunder« ist! Vieles von Bachs weltlichen Vokalwerken ist sehr interessant, doch leider nur fragmentarisch überliefert. Ich selbst habe einige dieser Werke erforscht, wollte sie aber auch wieder zum Klingen bringen.

Mit der Rekonstruktion des Passionsoratoriums von 1725 gehen Sie noch einen Schritt weiter, denn hier existiert kein direkter Beleg, dass Bach dieses Picander-Libretto vertont hat. Wie sind Sie an die Rekonstruktion eines Werkes herangegangen, das es möglicherweise gar nicht gab?

Ich glaube, dass Bach eine Vertonung der Passionsdichtung für 1725 geplant bzw. begonnen hat, denn zu jener Zeit hat er schon intensiv mit Picander zusammengearbeitet. Ein Verbot des Textes durch die damals übliche Zensur wäre die plausibelste Erklärung, dass er dann auf die im Vorjahr erstmals erklungene Johannes-Passion zurückgriff, was schon länger als eine Art »Notlösung« diskutiert wird. Natürlich hat das Passionsoratorium eher experimentellen Charakter, schon der erhaltene Text gibt zahlreiche Rätsel auf. Aber Bach hat nachweislich Passionsoratorien z. B. von Telemann in Leipzig aufgeführt und sich offensichtlich für diesen Typus Passionsmusik interessiert, bei dem die Handlung nicht wörtlich nach dem Bibeltext, sondern in frei gedichteter Form wiedergegeben wird.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Arien und Chöre für die Rekonstruktion ausgewählt?

Das Werk ist eine Art Pasticcio, wobei die Chöre und einige Arien aufgrund von Textähnlichkeiten aus erhaltenen Bach-Werken wie der Matthäus-Passion und der A-Dur-Messe rekonstruiert wurden. Die übrigen, aus anderen Bach-Kantaten entlehnten Arien und die neu komponierten Rezitative sollen die Passion zu einem geschlossenen Werk vervollständigen und ihren lyrischen Charakter hervorheben: Im Zentrum steht – ganz im Unterschied zur Johannes- oder Matthäus-Passion – nämlich nicht die Dramatik der Passionshandlung, sondern die menschliche Anteilnahme am Leiden Jesu.

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