Einführung

Die Kunst der Variation auf Tasteninstrumenten darzustellen, war spätestens seit dem 16. Jahrhundert überaus beliebt. Ob Girolamo Frescobaldi, John Bull, Johann Pachelbel, Antonio de Cabézon oder Jan Pieterszoon Sweelinck – überall in Europa schufen Komponisten entsprechende Werke von teils erheblichem Ausmaß. Johann Sebastian Bach allerdings hielt sich, von einigen Jugendwerken und der berühmten Violin-Chaconne abgesehen, in der Variationskunst eher zurück. Als er jedoch in den 1730er Jahren die Publikation seiner mehrbändigen »Clavier-Übung« plante, in der er sich der Musikwelt als vielseitiger Komponist von Tastenmusik präsentieren wollte, räumte er der Variationsgattung einen hervorgehobenen Platz ein: Als vierten Teil und damit krönendes Finale seines größten Druckprojekts veröffentlichte Bach 1741 die »Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbel mit 2 Manualen«, später kurz »Goldberg-Variationen« genannt.

 

Als Thema der »Goldberg-Variationen« erklingt zu Beginn die »Aria«, ein 32 Takte umfassendes Musikstück im langsamen Dreiertakt, das von seinem Duktus an eine Sarabande erinnert. Maßgebend für die folgenden 30 Variationen ist aber nicht die elegant ausgezierte Oberstimme, sondern die Basslinie. Es handelt sich um eine Melodie, deren erste acht Takte identisch mit dem Ostinatobass einer 62-teiligen Variationsreihe von Georg Friedrich Händel (HWV 442) sind. Ob Bach dieses Thema bewusst verlängerte oder die Basslinie unabhängig von Händel (bzw. anderen Vorbildern) entworfen hat, ist nicht geklärt.

 

Die anschließende Reihe von 30 »Veraenderungen« folgt nun einer sorgsam ausgearbeiteten Architektur. Demnach besteht die Komposition aus zehn Gruppen zu je drei Variationen, die jeweils nach ähnlichen Prinzipien aufgebaut sind. Am deutlichsten wird diese Dreier-Einteilung an der letzten Variation jeder Gruppe, die stets als zweistimmiger Kanon über der gegebenen Basslinie angelegt ist. Der Intervallabstand zwischen den beiden Kanonstimmen erhöht sich dabei von Gruppe zu Gruppe um einen Ton: In Variation 3 erklingt der Kanon im Einklang (»Canone all’Unisono«), in Variation 6 im Abstand eines Ganztons (»Canone alla Seconda«), in Variation 9 als Terzkanon usw. Die mittleren Variationen jeder Dreiergruppe (also die Variationen 2, 5, 8 usw.) sind überwiegend virtuos gestaltet und explizit auf die spieltechnischen Möglichkeiten eines zweimanualigen Cembalos zugeschnitten. Stimmkreuzungen sind in diesen rasanten Stücken keine Seltenheit. Die ersten Variationen schließlich jeder der zehn Gruppen (also die Variationen 1, 4, 7 usw.) weisen die größte stilistische Vielfalt auf. Hier finden sich viele Tanzsätze, aber auch großartige Charakterstücke.

 

Jenseits dieser »Dreierordnung« stellt Bach in den einzelnen »Veraenderungen« immer wieder Beziehungen zu bestimmten Formen und Satztechniken her. So klingen die Tanzsätze Polonaise (Variationen 1, 23, 29), Sarabande (Variationen 25, 26), Menuett (Variation 19) und Passepied (Variationen 4) an, als Variation 10 erklingt eine Fughette, als Variation 22 eine Fantasia. In drei Variationen (15, 21 und 25) wechselt Bach von der sonst ständig präsenten Grundtonart G-Dur nach g-Moll und erreicht hierbei einen außerordentlich tiefen Ausdruck. Mit einer französisch inspirierten Ouverture markiert Bach in Variation 16 unüberhörbar den Mittelpunkt des Gesamtwerkes.

 

Für die 30. und letzte Variation hat sich Bach einen außergewöhnlichen Effekt aufgehoben. Er präsentiert nicht einen zweistimmigen Kanon, sondern ein »Quodlibet«, in dem er die themengebende Basslinie kunstvoll mit Melodieauszügen aus zwei thüringisch-sächsischen Volksliedern (»Ich bin so lang nicht bei dir gwest« und »Kraut und Rüben haben mich vertrieben«) kombiniert. Diese einzigartige Verbindung von Hochkultur und Gassenhauern spricht für ein gehöriges Maß an Humor und Selbstironie bei Johann Sebastian Bach. Nach Abschluss der Variationsreihe lässt Bach die »Aria« noch einmal wiederholen, wodurch das 32-taktige Bassthema auch wirklich 32 Mal erklingt.

 

Bernhard Schrammek

Eine Variationsreihe für schlaflose Nächte?

So lautet jedenfalls der Ursprungsmythos der »Goldberg-Variationen«: Bach, so behauptet sein erster Biograph Forkel, habe diese Aria mit 30 Veränderungen für einen Diplomaten in Dresden geschrieben, der unter Schlafstörungen litt und sich die nächtlichen Stunden mit musikalischen Darbietungen seines Hauscembalisten Goldberg vertrieben hat. Dichtung oder Wahrheit?

 

Reichsgraf von Keyserlingk – der Auftraggeber?

Bachs Biograph Forkel brachte schon 1802 Hermann Carl von Keyserlinck (1696–1764) als Auftraggeber der Variationsreihe ins Gespräch. Dieser Adlige fungierte von 1733 bis 1745 als russischer Gesandter am kurfürstlichen Hof in Dresden. In diesem Amt unterstützte er Bachs Bemühungen um den Titel eines »Hofcompositeurs«. 1741 besuchte der Thomaskantor ihn in Dresden und könnte ihm ein druckfrisches Exemplar der Variationen überreicht haben. Da allerdings eine zeitübliche Widmung an den Grafen in der Publikation fehlt, kommt Keyserlinck als direkter Auftraggeber wohl kaum infrage.

 

Johann Gottlieb Goldberg – der Erstinterpret?

Ohne Bachs Variationsreihe wäre Johann Gottlieb Goldberg (1727–1756) heute wohl gänzlich unbekannt. Geboren in Danzig, gelangte er noch als Kind nach Dresden, in den Dienst des Reichsgrafen Keyserlingk. Unterrichtet wurde er hier von Wilhelm Friedemann Bach, später weilte er offenbar auch kurze Zeit bei Vater Bach in Leipzig und wurde 1751 Kammermusiker des Grafen von Brühl. Im Herbst 1741 könnte er Bachs Besuch in Dresden miterlebt haben. Ob er als 14-Jähriger allerdings schon dazu fähig war, die überaus anspruchsvollen Variationen zu spielen, darf zumindest angezweifelt werden.

 

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