Der Festival-Jahrgang 2026: Im Dialog

Gespräch mit dem Intendanten Prof. Dr. Michael Maul

Foto: Kens Schlüter

 

Herr Maul, das Motto des Bachfests 2026 lautet »Im Dialog«. Was verbirgt sich dahinter?
Jeder Bachianer weiß: seine Musik ist ein permanenter Dialog der einzelnen Stimmen: »Sie gehen mit einander und widereinander; beydes wo es nötig ist. Sie verlassen einander und finden sich doch alle zu rechter Zeit wieder zusammen.« Mit diesen Worten verteidigte Johann Abraham Birnbaum in den 1730er Jahren Bachs Kompositionen gegen den Vorwurf, sie seien »zu verworren«, »schwülstig« und »wider die Natur«. Und Birnbaum ergänzte: »Wird dieses alles so, wie es seyn soll«, aufgeführt, so gibt es »nichts Schöneres«, als genau diese Art von »Harmonie«. Mit anderen Worten: Das Besondere an Bachs Satztechnik ist, dass hier alle Stimmen gleichberechtigt und eigenständig am musikalischen Diskurs teilnehmen. Aber dabei entsteht weder Chaos noch Kakophonie, sondern schönste Harmonie. Modern gesprochen könnte man also durchaus sagen, seine Musik repräsentiert einen hochdemokratischen Prozess. Aber im Bachfest wird das dialogische Prinzip gleich auf mehreren Ebenen greifbar.

Geben Sie doch ein paar Beispiele! 
Gern! 1726 gab Bach erstmals ein Clavierwerk im Druck heraus: seine Partita BWV 825, erschienen unter dem Titel »Clavier-Übung«. Den 300. Geburtstag der einzigartigen Serie der »Clavier-Übungen« feiern wir in einem Doppel-Zyklus. Sir András Schiff spielt die Stücke, inklusive der »Kunst der Fuge«, auf dem modernen Konzertflügel – und Mahan Esfahani am historischen Cembalo. Zwei Interpreten musizieren auf zwei Instrumenten zwar die gleichen Noten, jedoch in ganz unterschiedlichen Klangwelten – ein Dialog in mehrerlei Hinsicht.

Und jenseits der reinen Tastenmusik?
Da gibt es auch viel Dialogisches zu hören – schon allein im Bereich der Kammermusik. Natürlich dürfen bei diesem Motto Bachs Sonaten »con cembalo obligato« nicht fehlen – Stücke, in denen das Cembalo auf Augenhöhe mit einem zweiten Instrument, sprich mit Violine oder Gambe, konzertiert. Diese herrlichen Zwiegespräche werden bei uns auch ganz Große ihres Fachs führen: Lucile Boulanger und Pierre Hantaï sowie Isabelle Faust und Kristian Bezuidenhout. Und dann sind da noch Bachs Cellosuiten. Zwar sind sie, um im Bilde zu bleiben, Selbstgespräche und überwiegend einstimmig. Aber auch hier gelingt es Bach auf zauberhafte Weise, einen ganzen Kosmos zum Klingen zu bringen. Zumal sich durch Mario Brunellos besondere Programm-Gestaltung ein weiterer Dialog ergeben wird: mit den unglaublichen Solosonaten für Cello von Mieczysław Weinberg, komponiert in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Tritt Bach auch in den Dialog mit seinen Zeitgenossen?
Natürlich – und nicht zu knapp! Denn Bach rezipierte ein Leben lang neugierig die Werke anderer. Und deshalb stellen wir seine Musik derjenigen seiner Vorbilder (Buxtehude, Händel, Keiser, Couperin, Vivaldi), seiner Freunde und Schüler (Johann Ludwig Bach, Krebs, Müthel, Goldberg) gegenüber. Hinzu kommen zwei Dialoge in der Thomaskirche, die ich mit Hochspannung erwarte. Zum einen die Adaption der Marienvesper im Eröffnungskonzert, zusammengestellt von Thomaskantor Reize; zum anderen die Kombination aus Werken von Schütz und Bach mit dem Brahms-Requiem, präsentiert vom atemberaubend aufspielenden französischen Ensemble La Tempête. Und ebenfalls freue ich mich ganz besonders auf den musikalischen »Wettstreit« zwischen Bach und seinem schärfsten Kritiker Johann Adolph Scheibe. Da kann das Publikum endlich einmal musikalisch nachvollziehen, wer in der berühmten Scheibe-Birnbaum-Debatte die besseren Argumente hatte.

Apropos Publikum. Hat das denn auch eine Stimme im Festivalprogramm?
Aber ja, eine ganz entscheidende. Denn den ersten Dialog in Sachen Bachfest 2026 haben wir mit unserem Publikum geführt. Für ein halbes Jahr lief eine Online-Abstimmung, bei der wir herausfinden wollten, was die weltweit beliebtesten Bach-Kantaten sind. Über 7.000 Votings sind bei uns eingegangen. Und das Ergebnis ist für unsere Neuauflage des legendären Kantaten-Rings (2018) bindend. Sprich: Im Bachfest werden nun auf der Grundlage eines basisdemokratischen Verfahrens die TOP 50 der Bach-Kantaten in zwölf Konzerten aufgeführt, heruntergespielt von Platz 50 bis Platz 1 – wie bei den guten alten Radio-Hitparaden. Und deshalb wird das Publikum auch erst in den Konzerten selbst erfahren, welche Stücke es in die »Bach-Charts« geschafft haben. Spannung bis zur letzten Note! Aber keine Sorge: Qualität und Hochgenuss sind garantiert. Dafür sorgen die beteiligten Künstler – die Champions League der Bach-Interpretation – ebenso wie Bach selbst. Denn wie sagte schon dessen Sohn Carl Philipp Emanuel so treffend: »Man ist gewohnt gewesen, von ihm nichts als Meisterstücke zu sehen!«

Das klingt nach einem Festival voller Überraschungen. Gibt es weitere Formate, die den Dialog besonders hervorheben?
Ja, und es nicht zu viel behauptet, wenn ich sage: Der Dialog zieht sich wie ein roter Faden durch alle 210 Veranstaltungen – sei es in unserer Reihe »Bach für uns«, den »Ausgezeichnet«-Konzerten, in den Bachfest-Lounges, den Metten, in den genreübergreifenden Formaten auf der Open-Air BachStage oder in den fantastischen Konzerten, die das Gewandhaus und die Komponistenhäuser beitragen werden. Und dann gibt es ja noch die vielen Podiumsgespräche: in »Forschung live« oder in meiner Reihe »Maul trifft« – wo ich diesmal gemeinsam mit meinem Podcast-Bruder Bernhard Schrammek die Künstler der Kantaten-Hitparade zum Sprechen bringen werde und mir sogar Talk-Legende Harald Schmidt, der wahrscheinlich berühmteste C-Organist der Republik, seine eigene Bach-Geschichte erzählen wird. Diejenigen Besucher, die gern selbst aktiv werden möchten, können dies wieder auf unserer Blüthner Open Stage im Hauptbahnhof tun – oder bei der Neuauflage unseres We-are-Family-Chores in der Thomaskirche.

Das klingt in der Tat nach einer riesigen Bandbreite. Wenn Sie einen Wunsch hätten, was soll das Publikum aus diesem Bachfest mitnehmen?
Nun, dass sich wieder das Gefühl einstellt: Unser Festival ist schlichtweg die schönste, internationalste ›Bach-Selbsthilfegruppe‹ der Welt. Und außerdem: Die Erkenntnis, dass Bachs Musik mehr ist als bloße Kunst – sie ist auch ein Modell für ein gutes Miteinander. Zumal in einer Zeit, wo uns auf so vielen Feldern die Fähigkeit und der Wille zum Dialog verloren zu gehen scheint, wir die gemeinsame Basis nicht mehr finden (wollen). Bach zeigt uns, wie ein gutes Gespräch funktionieren kann. Es besteht nicht darin, dass eine Stimme die andere übertönt, ignoriert oder zum Schweigen bringt. Vielmehr braucht es das gegenseitige Zuhören und den konstruktiven Austausch, um zu echter Harmonie zu gelangen.
 

off